Max Frisch

Am 5. April 2010 neu erschienen, erst 2009 wurde das Manuskript im Nachlaß wiederentdeckt. Aufgefunden in einem für die Öffentlichkeit nicht zugänglichen Bereich des Max-Frisch-Archivs, als drittes und verschollen geglaubtes Tagebuch. Die genaue Bezeichnung lautet:  Tagebuch 3, ab Frühjahr 1982, Widmung für Alice, New York, November 1982. Es handelt sich um ein Typoskript, das an der Eidgenössischen Hochschule in Zürich einsehbar ist. Die Aufzeichnungen haben oft den Bezug zur Architektur. Bei Frisch ist Amerikakritik stets mental bedingt, ein wenig wie die innere Wut die manchmal hochkommt. Das steigert sich bis zu einer Kritik an der aktuellen Atompolitik.

 

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Schon im November 1982 war der größere Teil des Tagebuchs entstanden. Frisch hatte ein Titelblatt angelegt, wohl mit der Absicht mit den Aufzeichnungen fortzufahren. Dann erschien seine Biographie, die ein Jahr später unter der Nummer 321 als Rowohlt-Monographie herausgegeben wurde. Frisch hat eine Fähigkeit schriftstellerisch zu skizzieren, um den gewonnenen Text dann in Prosa umzuwandeln. Zum Verfahren läßt sich sagen, daß er die Texte in New York telefonisch an seine Sekretärin diktiert hat. Auch die in Zürich überarbeiteten Texte übermittelte er. Das setzt eigentlich voraus, daß der Text für den Autor zum damaligen Zeitpunkt endgültig war.

 

Aus den Gesprächen zwischen Frisch und dem Schweizer Dramaturg Urs Bircher etwa verstärkt sich das Bild der literarischen Form: „Max Frisch hat jede Lebensentscheidung, die ihm bevorstand, literarisch durchgespielt, um danach den gefundenen Weg einzuschlagen. So liegt es nahe, Frischs Werk als ein einziges, großes Tagebuch zu lesen.“  Mit Tagebuch bezeichnet der Autor seit Ende der 1940er Jahre eine eigene literarische Form, die sich von dem unterscheidet, was man im Allgemeinen unter einem Tagebuch versteht. Gemeint ist eine streng gefügte Komposition essayistischer oder erzählender Texte, die untereinander so in Beziehung stehen, daß sich ein Geflecht wiederkehrender Themen und Motive ergibt. Als Kunstform steht dies gleichwertig neben dem Roman, der Erzählung und dem Theaterstück. Viele Notizen Frischs wanderten in den Papierkorb, vor allem wenn das spontan Notierte nicht mehr für die Verarbeitung in einem Werk geeignet war. Daraus ergibt sich aus Sicht des Herausgebers Peter von Matt, daß die hier vorgelegten Texte keine zufälligen Notizen sind. Sie haben alle den Prozess der Reduktion und Verdichtung hinter sich und nehmen einen Platz im Themengefüge des gesamten Ganzen ein.

 

Gemeint ist mit Verdichtung und Schliff eine gesteigerte Prägnanz, aber auch der Verzicht auf inhaltliche Details um der Form willen, die hinter jedem der im Buch versammelten Prosastücke liegen. Diese Verdichtung gilt nicht für rein sprachliche und orthographische Einzelheiten. Das Typoskript im Max-Frisch-Archiv wurde vom Autor nicht durchgesehen. Es war das Handmanuskript der Sekretärin. Sie hatte es um 2001 dem Archiv übergeben.

 

Der Autor hatte in zeitlichen Abständen schon mehrere Tagebücher vorher veröffentlicht. Das erste behandelt die Jahre 1946-1949. Das zweite Tagebuch berichtet über die Jahre 1966 bis 1971. Das dritte und verschollen geglaubte, weil angeblich von Max Frisch selbst vernichtet, nimmt sich der Jahre danach an. 1982 enden die Eintragungen. Danach sind Aufzeichnungen in dieser Form wohl aufgegeben worden. Frisch war wie bekannt Architekt, der diesen Beruf aber nur selten ausübte. Bestes Beispiel ist das Schwimmbad in Zürich, das erst vor einigen Jahren saniert wurde. Er stand dem Berufsbild des Architekten immer Nahe, wenn dies auch mit gemischten Gefühlen geschah.

 

Das erste Wort beginnt mit dem Namen: „New York“. Diese Form der Artikulierung praktiziert Frisch schon in ähnlicher Weise in der Erzählung „Montauk“ aus dem Jahre 1974. Er erwähnt diese einmal in seinem dritten Tagebuch auf Seite 158. Im Jahre 1981 drehte der Schweizer Dokumentarefilmer Richard Dindo den Film «Max Frisch, Journal I–III. Eine filmische Lektüre der Erzählung „Montauk“. Insofern bieten die Entwürfe zu einem dritten Tagebuch nicht viel neues. Es wäre auch nicht richtig von alt gewohntem zu sprechen, die Präsenz der Aussagen ist ungewohnt aktuell. Besonders wenn Frisch immer wieder tagesaktuelle Nachrichten aufgreift und sie für sich literarisch verwertet. Die Gefahren die für die Welt ausgehen, sind scheinbar die gleichen geblieben, früher wie heute.

 

In der Erzählung "Montauk" geht es vor allem um Reisebeschreibungen in und nach Amerika. Strukturierte Sprachfetzen generieren sich zu einem Gesamtzusammenhang. Hin und wieder bricht ein Text abrupt ab. Ähnlich verhält es sich bei den Entwürfen, wobei der Name „New York“ selbstredend agiert. New York, ist ein wiederkehrender Topos bei Frisch, der nicht so leicht zu schlagen ist, auch nicht vom Engadin oder von Paris. Orte die er miteinander vergleicht.

 

Max Frisch fühlt sich schriftstellerisch motiviert. Sein ambivalentes Verhältnis, das er zu Amerika hegt, wird immer wieder auf die Probe gestellt. Ab der zweiten Zeile folgt auf Seite 1 ein Stabreim, der lautet: I hate it…, I love it…, fortlaufend, und einmal I don’t know…, wobei die Form des Stabreims durchaus architektonisch intendiert eine Bedeutung in Bezug auf New York haben kann, vielleicht sogar auf das Wohnhaus in dem Frisch wohnte. Jedenfalls ein Beispiel für eine Textform die sich an gebauter Architektur orientiert. Der französische Philosoph Michel Butor und Begründer des "Noveau roman" schreibt in seinem Aufsatz: „Das Buch als Objekt“, was gewissermaßen für eine Architektur oder Gebäude in besonderer Weise gedacht werden kann. Es heißt:

Eine Aufzählung eine vertikale Struktur, kann an jedem beliebigen Punkt des Satzes auftreten; die Wörter aus denen sie sich zusammensetzt, können jede beliebige Funktion haben, vorausgesetzt, dass es ein und dieselbe ist. Sie können sogar außerhalb eines Satzes, in der Erwartung eines Satzes liegen. Ganze Bücher können auf diese Weise zusammengesetzt sein, die Liste der Namen in einem Telefonbuch bildet keinen Satz, aber man kann sich leicht Sätze vorstellen, in die ich ein, zwei, n oder auch alle Bestandteile der Liste eingehen lassen kann.

 

So wie aufzählende vertikale Strukturen innerhalb der horizontalen Struktur von Sätzen auftreten können, ist es auch möglich, daß sich horizontale Strukturen an die Glieder von Aufzählungen anhängen; das vollzieht sich in allen Dictionnaires oder Nachschlagewerken. Diese beiden Typen von Gebilden aus Wörtern können zudem auf unendlich vielfältige Weise kombiniert werden. Butor bezieht bei seiner Erklärung für die Bedeutung solcher Aufzählungen  neben klassischen Autoren auch auf zeitgenössische Dichter.

 

In ihren Strukturen können die Listen ebenso variiert werden wie die Sätze, sie können sein:offen oder geschlossen, amorph oder geordnet Allein der Umstand, daß die Wörter nach einer vertikalen Achse von oben nach unten angeordnet sind, scheint sie in eine hierarchische Ordnung zu bringen.

„New York als Wallfahrtsort“ führt Frisch fort. Das klingt übertrieben, denn Wallfahrt ist eine Reise zu einer Pilgerstätte mit religiöser Bedeutung. Frisch erzählt von seiner Loft in New York, die endlich soweit sei, daß man darin wohnen kann. Schon bald folgt die Kehrtwende ins negative: „hocke draußen auf der eisernen Feuertreppe im fünften Stock und kann es mir nicht verhehlen. Wie dieses Amerika mich ankotzt.“

 

Bei Frisch ist Amerikakritik mental. Die innere Wut, die ausbricht, in ihm hochkommt. Das steigert sich bis zur Kritik an der amerikanischen Atompolitik, ein Dauerthema wie sich erweist. Ergebnis ist ein Spannungsverlauf, der mit jedem einzelnen Text erzeugt wird. Peter von Matt schreibt: „Was an den einzelnen Texten immer neu fasziniert, ist sein Gefälle zum Ende hin, das gleichzeitig abschließt und öffnet. Selbst wenn es in einem klar formulierten Denkansatz endet, steht es als etwas, was ein Weiterdenken verlangt.“  Auf Seite 44  erscheint ein weiterer Einblick in das New Yorker Wohnhaus.

 

Unsere Loft ist ein Schildbürgerstreich. Geträumt war eine Werkstatt, wo man auch wohnt, und es ist eine Wohnung daraus geworden, ja, eine Wohnung ohne Wände, was wie ein Atelier aussieht, und um arbeiten zu können, suche ich jetzt ein Zimmer in der Nachbarschaft. Hingegen habe ich mich nicht gewöhnt, dass man die Pfoten des Hundes hört, der über uns wohnt, weniger an die laute Rock-Musik von unten. Manchmal ist es auch ganz still und ich arbeite trotzdem schlecht.

 

Max Frisch hatte die Wohnung in New York, 123 Prince Street im Stadtteil Soho, am 30. April 1981 erworben. Schon am 26. September 1984 wieder verkauft. Frisch schreibt in der Regel „Loft“, weil das im Wortgebrauch der Schweizer üblich ist. Auf Seite 119 setzt die Beschreibung einer Straßenarbeit ein, die sich vollständig in der Alltagsbeobachtung zu erfüllen scheint.

 

Unsere Prince Street wird geteert. Ich schaue zu, wie ich als Bub solchen Arbeiten oft zugeschaut habe, das ken­ne ich: der schwarze Brei, der noch ein wenig raucht, dann die schwere Walze. Aber sie arbeiten hier anders: wie grosse Buben. Wie Pioniere, die Eile haben. Wie Dilettanten, die sich zu helfen wissen. Tüchtig mit etwas Pfuscherei, also unzimperlich und zügig. Es gibt so viel Strasse, die geteert werden muss, allein in Manhattan. Die Walze fährt einen Lampenmast an und verbiegt ihn, keine Aufregung darüber. Das Zuschauen macht Spass. Lauter kräftige Männer, darunter auch grauhaarige, die diesen Job vermutlich schon kennen. In Europa (vor al­lem in der Schweiz) sieht es immer nach Facharbeit aus, auch wenn es Arbeiten sind, die jedermann verrichten könnte. Als ich vom Kiosk zurückkomme, ist die Tee­rung schon fünfzig Meter weiter gewalzt und fertig, der Lampenmast nicht verbogener als manche andere auch.

 

Peter von Matt erläutert: „und ergreifend berührt es den Leser, wenn er in diesem alten Mann an der Prince Street plötzlich den kleinen Max Frisch sieht, der sechzig Jahre früher, mit ebenso großen Augen das Werk der städtischen Bauarbeiter an einer Straße in Zürich Hottingen verfolgt.

 

Einerseits sind es einzelne Texte, andererseits ist es die Vernetzung. Je nach Aufmerksamkeit entstehen unterschiedliche Grade. Zusammen bilden sie ein Essay zu Themen: wie Altern, zum sterbenden Freund, zu den USA, zum Nuklearkrieg, zu Israel, zur Arbeit, zur Liebe, zur Transzendenz, zum Traum von einem Haus für die letzten Jahre.

 

Eigenwillige Gefühlsäußerungen kommen so zum Ausdruck. Hier von Großmannssucht zu sprechen, wäre nicht richtig, obschon das in gewisser Hinsicht passen könnte. Es ist eher Frischs Individualität, weil seine Lebensbegeisterung zu einem großen Teil darin besteht, sich einzurichten, was in jedem Fall und überall auf der Welt gewöhnungsbedürftig ist.

 

Ein weiterer Zug seiner Schreibweise bezeichnet, wie er das Reden über sein eigenes Handwerk in die Betrachtung der Arbeit anderer verschiebt. Gemeint ist der Maurer und Holzfäller im Tessin. Auf Seite 25 beschreibt Frisch den alten Mann, der ihm eine kleine Mauer baut. Sein handwerkliches Können, seine Gefühl für das Material, die Sicherheit jedes Griffs spiegeln auch die Arbeit des Schriftstellers:

 

Wie der alte Maurer kniet und den Stein, den er sich ausgesucht hat, in der linken Hand hält, dann mit dem kleinen Hammer ihn sorgsam spaltet, so dass ein Stück davon in das Mauerwerk passe – ich schaue ihm gerne zu diese Zärtlichkeit mit einem Stein, seine Kenntnis der Struktur dieses Steines oder eines anderen Steines, seine tätige Geduld.

 

Im Kontext des ganzen Buches erscheint diese Beschreibung vom Bau einer dauerhaften Mauer wie eine kleine Allegorie für das Schreiben eines dauerhaften Textes, meint Peter von Matt, was auf Seite 28 nochmals eine Fortsetzung findet:

 

In vier oder fünf Tagen, falls es nicht regnet, so daß sich seine Arbeit verzögert, wird die kleine Mauer vollendet sein, der alte Maurer wird verschwunden sein.

 

Max Frisch war Eigentümer mehrerer Wohnungen. Dazu zählt das steinerne Haus im Tessin ebenso wie das schon zuvor erwähnte geräumige Loft in New York. Im gleichen Atemzug wird jedoch angefügt, von Zürich konnte er nie lassen. In Zürich keine Wohnung zu haben, war für Frisch ein Gedanke der Unmöglichkeit. Um die Wohnstätte in Zürich weiter aushalten zu können, dazu waren die anderen Behausungen unabdingbar.

 

Frisch beschreibt das Bergdorf Berzona im Schweizer Tessin. Jenes Dorf mit nur 82 Einwohnern, im Ort lebte der Autor, wie Golo Mann und Alfred Andersch auch. Auf Seite 70 findet sich bei Frisch folgender Bezug:

 

Renovationen am Haus in Berzona: Kosten 48.000 Franken. Was sieht man davon? Die blaue Farbe blättert nicht mehr von den Türen. Und der Tank für das Heizöl ist entrostet. Das Granitdach ist immer noch nicht dicht, das hätte nochmals 10.000 Franken gekostet. Und die Fassade mit den Wasserstriemen hätte ich auch nicht lassen, das hätte nochmals 7000 Franken gekostet. Immerhin sind alle Teppiche und Vorhänge wieder einmal gereinigt, sämtliche Steckdosen wieder brauchbar, das Gelände gerodet für ein Jahr, die Büchergestelle wieder weiss – und so weiter – vor allem aber, ich sehe, dass ich den Ort nicht aufgegeben habe, dass ich in diesem Haus jemanden erwarte.

 

Erzählt penibel die verschiedenen Renovationsarbeiten an seinem Haus im Tessin auf. Sogar die Kosten werden angegeben, so als ob das jemanden interessieren könnte. Dann aber, als man sich schon mit dem Verdacht einer gewissen Spießigkeit abgefunden hat, bringt er den Satz hervor: „Ich sehe, dass ich den Ort nicht aufgegeben habe, dass ich in diesem jemand erwarte.“  In diesem Augenblick, so Herausgeber von Matt, wird der Bericht über den Unterhalt eines alten Hauses geradewegs zur Selbsterkenntnis. Hinter seinem eher mürrischen Handeln steht eine unbewußte Zukunftserwartung, Hoffnung und Freude auf Begegnung. Der Herausgeber formuliert: „So illusionslos die Diagnose der Langeweile immer wieder gestellt wird, so häufig bricht dazwischen doch das manifeste Gegenteil aus, die Erkenntnisgier eines Beobachters, die Lust zur scharfen Analyse, das Glück des Schauens und Sehens, das schon den jungen Frisch ekstatisch bewegt und zu einer Fülle wie in Trance geschriebener Naturbilder getrieben hat.“

 

Dieses Beobachten und an scharfer Analyse geübte Sehen, ist es, was den Architekten, Ingenieur und Techniker schlechthin auszeichnet. Die Literarisierung solcher Formen gelingt nur selten. Äußerungen im technischen Sprachgebrauch behalten meist einen nüchternen und abweisenden Unterton. Ariane Eichenberg und Michael Marek beschreiben in einem Artikel aus dem Jahre 2007 den Ort, abrufbar unter:

http://www.welt.de/welt_print/article1185796/Dorf_der_Dichter.html

Die Abschnitte im Buch aus dem Suhrkamp Verlag sind nicht datiert, obwohl nach Angaben des Herausgebers eine sehr genaue Datierung existiert, aufgrund derer die Reihenfolge die Texte genau nachzuvollziehen ist.

 

Es besteht auch nicht die Absicht Verwirrung zu stiften, wie das in Butors tagebuchähnlichem Roman: „Der Zeitplan“ geschieht. Die Chronologie der Abläufe ist aufgehoben. Die Tagebucheinträge erhalten einen völlig neuen Sinn. Warum die Suhrkamp Ausgabe keine Datumsangabe benennt? Das liegt vielleicht im Bemühen den literarischen Wert der schriftstellerischen Form stärker hervorzuheben, was sonst mit dem protokollarischen Impetus missverstanden würde. Das Nachwort von Peter von Matt gibt Aufschluß.

 

 Auf Seite 172  hat Frisch eine visionäre Erscheinung, das weiße „Lebensabendhaus“. Es steht in einer Landschaft in New England. Alles Dauerhafte und Flüchtige fällt hier zusammen:

 

Ein älteres Haus, meinetwegen aus Holz (weiss gestrichen) wie die Häuser in New England, eine ehemalige Villa mit dreizehn Zim­mern etwa und einer Veranda. Ausblick gegen Norden: Wald (aber nicht lauter Tannen) und fernere Hügel. Gegen Süden schaut man über Wiesen mit einem schwachen Gefälle, Bäume in Gruppen da und dort, kein Park, der absichtlich angelegt ist. Rasen gibt es nur gerade vor dem Haus, wo man im Schatten einer alten Buche sitzt. Kei­ne Kieswege. Gegen Osten oder gegen Westen sieht man in einiger Ferne stückweise einen See, der gelegentlich blinkt. Das Haus, da es weiss ist, müsste wieder einmal gestrichen werden, aber das vermag ich nicht. Übrigens ist es mir nicht klar, wessen Eigentum das ist. Wahrscheinlich zahle ich da ei­nen Mietzins. Soweit man von der Veranda aus sieht, darf nicht mehr gebaut werden. Die Bäume in dem Gelände, das keine Zäune zeigt, sind je nach der Gegend, wo wir uns befinden, entweder Apfelbäume, Kirschbäume auch oder Birken, Erlen und so weiter.

 und

Ein Hochkamin in der Ferne. Die nächste Ortschaft ist klein, notfalls auch zu Fuss erreichbar. Dort gibt es eine Post und einen Bus in die Stadt. Im Haus gibt es ein altes Piano und eine Bibliothek, die weit über meine Lesekraft hinausreicht, sowie ein grosser Kamin. Die Küche ist geräumig, nicht gerade modern, aber praktisch; immerhin gibt es eine Geschirrspülmaschine und einen Kühlschrank  ...

 

Das alte Ehepaar, das im ehemaligen Gesindehaus wohnt, ist ein Glücksfall. Er besorgt den sogenannten Garten, obschon er hinkt, und bringt das schwere Holz, das ich noch selber spalte. Insgesamt stehen vier Doppelzimmer zur Verfügung, drei Einzelzimmer. Es gibt einen Fernseher im Haus.

 

Peter von Matt schreibt über diese Passage: „Dauerhaft wäre dieses endgültige Haus ohne Zweifel, aber da es seine Existenz nur in der Vorstellung behält, in tief beruhigten Bildern, gehört es auch zum Flüchtigen. Gerade deshalb, weil damit der Ort jederzeit verschiebbar ist, einschließlich der Bäume, die Perspektiven der Landschaft und nicht zuletzt die Besucher, scheinen dem Spiel verfallen zu sein. Im Imaginären erlebt Frisch endlich das geglückte irdische Zuhause.“ Auf Seite 155 verdichtet sich dieser Zustand in eine Art locus amoenus, den Frisch nicht ohne seinen typischen Widerwillen beschreiben will:

Zur Zeit streiche ich grad die fünf hölzernen Säulen der Veranda, VICTORIAN STYLE, glaube ich. Man kann nicht sagen, die Säulen seien morsch. Etwas verwittert sind sie. Wie alle Fensterläden auch. Wer wird all die Fensterläden streichen? Wenn ich auf einem Stuhl ste­he, erreicht der Pinsel gerade noch das Kapitäl und den Querbalken, wenn ich mich auf die Fussspitzen stelle. Ein Mal bin ich bereits von dem wackligen Sessel gefal­len. Zum Glück hat es niemand gesehen, niemand ge­hört. Lebensabend auf dem Land... Vielleicht ist der See, der im Osten, morgens, als schmaler Streifen blinkt, gar kein See. Ich bin noch nie dahin gegangen. Vielleicht ist es ein Sund! - und der Himmel, den ich von der Veranda aus sehe, ist Himmel über Meer...

... Fortsetzung Seite 164

Ich streiche noch immer die hölzernen Säulen in der Veranda. Jemand schaut mir zu; ich fühle, dass jemand im grünen Schaukelsessel sitzt und zuschaut. Ein schweigsa­mer Gast. Als ich von meiner Malerarbeit aufschaue, ist der Schaukelsessel leer - Es spielt aber jemand auf dem Piano. Ich bin nie einsam. Ich streiche weiter –

 

 

 

Max Frisch. Entwürfe zu einem dritten Tagebuch

Herausgegeben von Peter von Matt

 

Suhrkamp Verlag Berlin, 1. Auflage (April 2010)

212 Seiten, gebundene Ausgabe

Größe:  18,8 x 11,8 x 2,2 cm

Gewicht: 255g

ISBN 978-

3518421307 

 

 

 

184 Seiten, von Frisch auf Tonband diktiert, von seiner Sekretärin in die Maschine getippt. Der Autor selbst hatte auf der Titelseite notiert: »Tagebuch 3. Ab Frühjahr 1982«. Max Frisch lebte zu dieser Zeit in New York, zusammen mit seiner damaligen Lebensgefährtin Alice Locke-Carey, bekannt als »Lynn« aus der Erzählung Montauk. Ihr ist das Tagebuch 3 gewidmet, und vermutlich fällt das abrupte Ende der Aufzeichnungen Mitte der achtziger Jahre mit der Trennung von der Amerikanerin zusammen. Das Tagebuch 3 Augenblicksnotizen neben längeren reflexiven Passagen – und hebt das scheinbar flüchtig hingeworfene Notat in den Rang des Literarischen.

 

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