Unbedachtes Wohnen

Unbedachtes Wohnen
Lebensformen an verdeckten Rändern der Gesellschaft
von Jürgen Hasse
Mitarbeit Jessica Witan
transcript Verlag, Bielefeld 
1. Auflage, 2009
251 Seiten, broschiert
Größe: 22,4 x 13,6 x 1,8 cm
Gewicht: 370g
ISBN: 978-3837610055
Wohnforschung
 

Prof J Hasse Transcript4

Buchvorstellung vom 03. Juli 2009 in den Räumen des Deutschen Werkbund in der Inheidener Straße. Jürgen Hasse ist Professor für Humangeographie an der Goethe-Uni in Frankfurt. Sein Buch beinhaltet nicht nur eine neue Definition zum Wohnen - die meisten Bücher über Städtebau haben eigentlich gar keine Definition, obwohl Wohnen zu den elementarsten Belangen des Lebens zählt. Im Mittelpunkt steht hier eine zeitgemäße Auseinandersetzung mit gelebten Formen. Die Fokussierung an den Rändern der Gesellschaft folgt deshalb, weil diese zu Irritationen für das selbstverständliche Wissen führen. 
  
Wer an schöner Wohnen denkt oder sich über einen Ratgeber mit ästhetischem Inhalt bei der Wohnungseinrichtung freut, der wird sich enttäuscht sehen. Jürgen Hasse kommt aus einem Fachbereich, der mit sozialwissenschaftlichen Fragen in gesellschaftlichen Brennpunkten befaßt ist und diese durch konkret erworbene oder empirisch ermittelte Resultate offen zulegen versucht. Es geht hierbei darum, das Wohnen vom profanen Einrichten zu lösen. Und es geht darum die Auseinandersetzung weiter zu fassen, als dies bisher im Alltagsdenken verankert ist.
 
Der Autor bezieht sich mit seinen Thesen auf den Philosophen Martin Heidegger mit seiner Formulierung: "Das Wohnen ist die Weise, wie die Sterblichen auf der Erde sind." (Heidegger 1951) womit das Wohnen auf das Ganze des Lebens bezogen ist und das moderne "Eingerichtet sein" weit übersteigt. Zur kulturellen Form des Hausbaus gehört der Blick in die Umgebung oder auch der Bild generierende Blick. Wohnen bleibt immer ein biographisch und kulturell geprägtes Geschehen. Wer dagegen einen solchen Ort nicht hat, kann nur Wohnen wie ein Unstetiger. Es gibt eine metaphysische Ebene in der Dinge wohnen. Zitiert wird der Satz: "Der Schrecken wohnte in seinen Augen...". Im Wohnen überlagern sich damit zwei Formen des Welt- und Selbstbezugs, eine geistig denkende und eine leiblich befindliche.  
 
Grundlage der Studie ist das Ziel, Wohnen wieder in den Denkhorizont des Menschen zurückzubringen. Pragmatisch gesehen sollen damit Immobilienmarkt oder die Folgen der Migration in Deutschland angesprochen sein. Letztlich sieht sich Jürgen Hasse mit seiner Definition des Wohnens gar nicht mehr in den Sozialwissenschaften beheimatet, sondern führt in einen Bereich hinein, der eher zur Phänomenologie gehört. Einen weiten Bogen schlägt er, um von Heidegger auf Foucault zu gelangen, nachdem "das Wohnen im Geviert" in Heideggers Sprache allmählich im Allgemeinwissen des Lesers angekommen sein dürfte.
 
Eine Definition von dem was Wohnen bedeutet oder was daraus geworden ist, wird gleich zu Anfang gegeben, indem der Mensch als handelnder Akteur dazu neigt nur das "starke" Individuum anzuerkennen, das sich durch ein rationalistisch entworfenes Kunstwesen auszeichnet. Zwar selbst bestimmt, aber zugleich durch eine gezielte Programmatik in Gang gehalten. Weshalb, so Jürgen Hasse, nicht einfach von einem Vergessen-Machen des Wohnens die Rede sein kann. Wohnen wird immer wieder viel zu sehr vom menschlichen Verstand vereinnahmt, hat damit nicht mehr die Qualitäten, wie sie gerade in der hermeneutischen Philosophie Heideggers zum Ausdruck gebracht worden ist.
 
Mit der Überschrift: Wohnwelten ver-orten beginnt der nächste Abschnitt. Im Folgenden werden neun beispielhafte Formen des Wohnens illustriert. Das geschieht an verdeckten Rändern der Gesellschaft, wie Obdachlosenasyl oder ästhetisierten Rändern wie repräsentatives Wohnen in einer Luxuswohnung, innere Ränder in Gestalt von  Gefängnissen, das Wohnen im Heim für Seeleute, einem  Kloster oder Wohnen für Alte. Ein Beispiel beschreibt  das Wohnen in der Wagenburg draußen, wieder anderes erwähnt  Kreatives Wohnen in Kollektiven und in der Wohngemeinschaft. Nicht zu vergessen der Soziale Wohnungsbau und sein in den Grenzen gedachtes Wohnen.
 Skizze vom 03.07.2009 
Panoptikum
Panoptisches Schema, Frauengefängnis in Preungesheim , Skizze
 
Empirische Ansprüche der Repräsentativität werden mit der Darstellung der Fallstudien nicht verbunden. Im narrativen Sinne sollen vielmehr Einblicke in verschiedene Lebenssituationen gewährt werden. Die ungewohnten Perspektiven sollen dazu führen, um durchaus auch einmal das eigene Wohnen zu hinterfragen.
 
Von Bedeutung ist vielleicht, daß zu jedem Beispiel am Schluß des Beitrags eine Retrospektive gegeben wird, eine Zusammenfassung um zu rekapitulieren und Gedankengänge zu erweitern. Das ist hilfreich, weil innerhalb der Textabschnitte sowohl philosophische Bezüge gegeben werden als auch Raum für zahlreiche Parenthesen genommen wird. Wenn diese Erweiterungen nicht vorkämen, wären die Interviews bloße Materialsammlung. Das aber soll gerade durch die Definition, von dem was Wohnen bedeutet, auf eine andere Ebene des Verständnisses transferiert werden.
 
Zu Beginn stehen zwei Interviews, die Wohnen im Gefängnis beschreiben, wobei die Frage bleibt, inwieweit das wirklich ein Wohnen ist, wenn man gezwungen ist sein Leben an einem Ort zu verbringen, ohne eine Wahl zu haben. Jürgen Hasse will die Empathie beim Leser erreichen für Menschen, die in solchen extremen Situationen ihr Wohnen gestalten müssen. 
 
Die Fragwürdigkeit zu den Hintergründen stellt sich auch im nächsten Beispiel, die Obdachlosen Unterkunft am Frankfurter Ostpark, die 2009 übrigens durch Günter Wallraff und dessen Undercover Recherchen Bekanntheit erlangte, als Wallraff die Obdachlosen Unterkunft bewohnte und kritisch über den zweifelhaften Umgang mit den Menschen dort berichtete.
 
Im nächsten Beispiel wird das klösterliche Wohnen im Refectorium des Kapuzinerkloster in Frankfurt vorgestellt, dem Gemeinschaftsraum der Mönche, wo alle Fäden zusammenlaufen. Die eigene Klause ist dort nicht das Zentrum des Wohnens. Das Refectorium bietet Möglichkeiten des Austauschs zwischen den Mönchen, während die Klause als Ort des Rückzugs vorbehalten bleibt. 
 
Von der Seefahrt ins Seemannsheim lautet die nächste Überschrift. Wer längere Zeit auf einem Schiff verbringt, wohnt in einem "Raum im Raum". Die Außenhaut des Schiffs fungiert als Grenze, die als Umfriedung empfunden werden kann. Für Michel Foucault ist das Schiff der andere Ort, die Heterotopie schlechthin (Foucault 1966). Die Älteren kommen damit nicht zurecht, so die Annahme. Der ehemalige Seemann F. wohnt im Hamburger Seemannsheim neben der St. Michaelis Kirche. Sein zu Hause sieht er als Kompromiss, als letzten Ort vor der Asozialität oder der Verwahrlosung. Auf eine Wohnung auf dem freien Markt verzichtet er, weil er mit dem Milieu nicht zurecht kommt.
 
Wohnen im Alter gestaltet sich allgemein schwierig, weil die meisten Menschen sukzessive an den Rand der Gesellschaft geraten. In Altenwohnzentren sind Appartements in Fluren zusammengefaßt. Diese fördern soziale Vernetzung und lassen nachbarschaftliche Beziehungen entstehen. In der Broschüre von "Sunrise" wird gefragt, was ist Luxus und was ist Notwendigkeit? Essen und Trinken und am Leben teilnehmen, lautet die Antwort. Die Lebenszufriedenheit wird demnach durch die hohe Qualität im Domizil bestimmt.
 
Neben einer Reihe aufgezählter Wohnmöglichkeiten alter Menschen und deren gesellschaftlicher Dimension werden neue Wohnmöglichkeiten beschrieben, wie Haus- oder Siedlungsgemeinschaften. Hierzu zählt auch das Mehrgenerationenhaus. Altenwohngemeinschaften sind Zweckverbände. Es ist Aufgabe der Stadtplanung und des innovativen Bauens, so die Forderung des Autors, auf diese Belange einzugehen. Beispiele des Wohnens im Alter drücken das Bedürfnis nach mehr Selbstbestimmung und aktives, anregungsreiches sowie sozial vernetztes Leben aus.
 
Mit dem sozialen Wohnungsbau wiederum gehen bauliche, ökonomische als auch ästhetische Rahmenbedingungen einher. Die Versorgung der Gesellschaft mit Wohnraum ist von so großer Bedeutung, daß im Buch nur Grundstrukturen des sozialen Wohnungsbaus beschrieben werden. Zu den Herausforderungen zählt die raumordnungs- und sozialpolitische Vorgehensweise, damit nicht nur Wohneigentum für Besserverdienende geschaffen wird. 
 
Das nachfolgende Beispiel illustriert zwei Wohnformen in der "Belle Etage" der Besserverdienenden, wie sie für das Auftreten der bürgerlichen Gesellschaft typisch sind. Gewählt wurde ein Beispiel aus dem Frankfurter Westend, das mit gründerzeitlichen Stadtvillen aus dem späten 19. Jahrhundert bürgerlichen Ansprüchen des Wohlstands durchaus gerecht werden kann. "Wohnung ist etwas wie Liebe, das man spürt", lautet ein Zitat hierzu. Das freut den Leser, zumal ein solches Vorstellungsbild alternativen Wohnvorstellungen nicht konträr gegenüber steht.
 
Letzte Änderung am Montag, 26 Februar 2024 21:54
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