Betrachtungen der Architektur (1. Aufl. 2020) von Tim Kammasch transcript Verlag

Betrachtungen der Architektur
Versuche in Ekphrasis
Architektur Denken 11
Hrsg. von Tim Kammasch
transcript Verlag, Bielefeld
1. Auflage, 2020
Broschiert, 326 Seiten, zahlr. Abb.
Größe: 22,6 x 13,9 x 2,7 cm
ISBN: 978-3837649949
auch als ebook
ISBN: 978-3-8394-4994-3

 

Manche Gebäude können ganz allgemein Ausdruck der Verödung und Trivialisierung einer Umgebung sein. Andererseits können sie aber auch eine Aufwertung der baulichen Umgebung bedeuten, das hängt davon ab, welche Qualitäten an ihnen thematisiert werden. Die Beiträge dieses Bandes "Betrachtungen der Architektur" herausgegeben von Tim Kammasch aus dem transcript Verlag unternehmen den Versuch, um einen Zugang zu Gebäuden und baulichen Umgebungen zu erlangen. Sie nehmen damit sprachliche Formen der Betrachtung von Architektur auf. In Anknüpfung an die spätantike Rede- und Textgattung der Ekphrasis werden konkrete Bauwerke als Objekt der Reflexion in den Blick genommen und ausgehend von ihrer Beschreibung der lebensweltlichen Bedingungen und der Kulturwert von Architektur erörtert.

 

Elf Bauwerken sind je zwei Betrachtungen zugeordnet, die einen Beschreibungs- und Interpretationsansatz beinhalten und in ihrer Gegenüberstellung eine Abhängigkeit vom jeweiligen Beschreibungsansatz verdeutlichen. Die Bauwerke wurden so ausgewählt, dass bei ihrer Betrachtung unterschiedliche Aspekte lebensweltlicher Bedingungen zur Sprache kommen. Im Anhang werden sie zudem durch Bilder, Pläne und Schnitte dokumentiert.

Den Beiträgen innerhalb der Reihe "Architektur Denken" liegen Vorträge zugrunde, die im Rahmen zweier Ringvorlesungen zum Thema "Vom kulturellen Mehrwert der Architektur - Versuche in Ekphrasis" gehalten wurden. Damit soll einem holistischen Verständnis von Architektur als auch dem didaktischen Ansatz innerhalb der Entwurfsphase Folge geleistet werden, aber auch um damit dem Anspruch nach mehr gesellschaftlicher Relevanz in Verbindung von Theorie und Praxis förderlich zu sein. Nach WIkipedia kommt Ekphrase aus dem Griechischen, ist eine literarische bzw. rhetorische Form, durch welche ein Gegenstand aber auch Handlungen oder Landschaften sehr anschaulich und bildlich beschrieben werden und dem Betrachter durch Imagination vor Augen gestellt werden. Im heutigen Gebrauch wird die literarische Beschreibung eines Werks der bildenden Kunst häufig als Ekphrase bezeichnet. Doch gilt diese umgedeutete Verwendung des Begriffs innerhalb der kunsthistorischen Forschung auch als umstritten. Der Grad der Anschaulichkeit unterscheidet die Ekphrase dabei vom sachlichen Bericht. Es handelt sich somit um eine literarische Visualisierungsstrategie, die versucht Leser oder Zuhörer zum Zuschauer zu machen, womit eine synästhetische, ganzheitliche Erfahrung suggeriert werden soll. Ekphrase verharrt damit stets in einem Spannungsfeld zwischen Betrachtung und Ästhetik.

 

20141129 Basel Stadt

 

Im Hintergrund das Roche-Hochhaus in Basel, das sich im November 2014 gerade in Bau befand, Foto (c) Kulturexpress

 

Die Autorinnen und Autoren des vorliegenden Bandes haben die ausgewählten Bauwerke vor Ort aufgesucht, um ihre Betrachtungen anzustellen. Im Gegensatz zur methodischen Alleingültigkeit der metrischen Erfassung der Wirklichkeit, wobei nur das zählt, was in Zahlen darstellbar ist, versuchen sich die Betrachtungen im Sinne Walter Benjamins mit „zarter Empirie“ zu Denkbildern vorzuarbeiten, sie ergeben das, was nach Hugo von Hofmannsthal noch nicht geschrieben wurde zu lesen. Gebaute Realität ist im übrigen viel zu facettenreich, als dass nur eine einzige richtige Sicht der Dinge an ihr erlaubt wäre. Anschaulich vermitteln Grundrisse, Schnitte, Ansichten und Fotos im Anhang des Bandes die beschriebenen Bauwerke. Das erleichtert die Imagination und eine bildhafte Vorstellung des Objektes erheblich.

 

Die Betrachtungsweisen im Buch folgen einer ausgesprochen geisteswissenschaftlichen Grundhaltung und der Aufforderung nach mehr Reflexion, was dies jedoch für die Praxis auf dem Bau bedeutet, sei dahingestellt. Denn die Lebenswirklichkeit auf den Baustellen der Umgebung und deren Lebenswelten werden nicht unbedingt thematisiert und bleiben somit unbeantwortet. Wie sieht es zum Beispiel mit Produktneuheiten aus? Es bleibt offen, inwieweit zwei aufeinanderfolgende Betrachtungen ein und desselben Bauwerks einer Systematik folgen oder welche Wechselwirkung sie aufeinander eingehen. Ich habe nicht den Eindruck, dass ein Dialog von einem Text zum anderen gefordert wurde, etwa im Sinne einer Dichotomie oder in Form von These zu Hypothese. Am Beispiel des Bürogebäudes in Basel, das Roche-Hochhaus, versucht sich einer der Autoren, Axel Christoph Grampp mit dem Kunsthistoriker Erwin Panofsky und dessen Methodik der Bildbeschreibung, was aus architektonischer Sicht nicht unbedingt ein passender Interpret ist. Grampp unternimmt wenigstens den Versuch und erklärt ergänzend, dass sein Modell der Bildenden Kunst erst auf die Architektur übertragen werden müsse. Der andere Beitrag zum gleichen Gebäude ist von Rainer Schützeichel, der Möglichkeiten der Interpretation aus den Bereichen Psychologie und Ökonomie aufnimmt, indem er den Roche-Turm in Basel als ein Symbol der männlichen Macht interpretiert und Stadtverträglichkeit und wirtschaftliche Notwendigkeit des Bauvorhabens ausdrücklich zu hinterfragen versucht. Eine Bezugnahme des einen Autors auf den Beitrag des anderen findet jedoch nicht unmittelbar statt, ein abschließend gemeinsames Fazit in Bezug auf das jeweilige Gebäude der Betrachtung kann deshalb nicht gezogen werden.

 

Leseprobe...

 

Elf Bauwerke, zweiundzwanzig Betrachtungen

  1 Wohnhaus: Haus Faraday, Bern
  2 Wohnkomplex: Pallasseum, Berlin
  3 Siedlung: Zwicky Süd, Dübendorf
  4 Schulanlage: Gymnasium Strandboden, Biel/Bienne
  5 Universitätsgebäude: Domain House, Hobart
  6 Industriegebäude: Eternitfabrik, Payerne
  7 Bürogebäude: Roche-Hochhaus, Basel
  8 Gemeindehaus: Farelhaus, Biel/Bienne
  9 Arkaden: Lauben, Bern
10 Monument: Denkmal für die ermordeten Juden Europas, Berlin
11 Friedhof: Heilly Station Cemetery, Méricourt-l’Abbé
 

Tim Kammasch ist Professor für Architektur- und Kulturtheorie im Joint Master of Architecture der Berner Fachhochschule. Davor war er Assistent und Lehrbeauftragter am Institut für Geschichte und Theorie der Architektur (gta) an der ETH-Zürich sowie am Historischen und am Philosophischen Seminar der Universität Zürich.

 

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